„Canton – das ist doch langweilig“, sagt Oliver Hennel, der die bedeutendste deutsche Lautsprechermarke in zweiter Generation führt. Bereits Anfang der 1970er-Jahre war sein Vater Günther Seitz eines der Gründungsmitglieder, heute ist Canton ganz im Besitz der Familie und beweist einmal mehr, dass familiengeführte Unternehmen die nachhaltigeren sind. Damals in den 70ern, in der Ära des Hi-Fi-Hypes, haben fast alle angefangen mit dem Lautsprecherbau. Darunter so ehrwürdige Namen wie Braun oder HECO in unmittelbarer Nachbarschaft im Taunus, der bald berühmt – oder besser berüchtigt – werden sollte für den sogenannten Taunus-Sound. Es gibt Namen wie Braun oder HECO immer noch – aber längst nicht mehr in deutschem Besitz und im Falle Braun auch nur noch bekannt für Rasierapparate oder Pürierstäbe. Canton hat sie alle unbeschadet überstanden. Nur den Taunus-Sound, den gibt es trotzdem nicht mehr. Aber davon später mehr.
Man nimmt auf der A 3 am besten die Ausfahrt Bad Camberg, der weitere Weg führt über 40 verschlungen-hügelige Landstraßenkilometer durch idyllische Ortschaften, vorbei an den für die Taunusregion typischen Fachwerkhäusern, schließlich durch Niederlauken, wo den Besucher am Ortsausgang von Weilrod in unübersehbarer Hanglage der Canton-Firmensitz erwartet. Von hier aus steuern Günther Seitz und Oliver Hennel ihr mittelständisches Lautsprecher-Imperium. Vor Ort wird zudem alles montiert, was, wie Hennel es formuliert, aus Holz ist, während das Innenleben der Lautsprecher aus Tschechien kommt. Dort hat Canton ein hochspezialisiertes Werk für Chassis, Frequenzweichen, Schwingspulen und Anschlussterminals aufgebaut. So eine enorme Fertigungstiefe ist ungewöhnlich für die Branche und Beleg für den Anspruch der Boxenbauer aus dem Taunus, die kein vermeintlich noch so nebensächliches konstruktives Detail dem Zufall überlassen. Dreimal die Woche nimmt ein großer Lkw aus Tschechien die Landstraßenkurven durch den Taunus und liefert zuverlässig all die Bauteile im Stammwerk ab, die dort von den 80 Mitarbeitern zu hochwertigen Lautsprecherboxen verarbeitet werden. Zum sorgfältigen Finish kommt Canton-typisch ein zeitlos unaufgeregter Designanspruch – fertig ist ein Klangpaket, das selbst verwöhnte Musikliebhaber über viele Jahre begeistern kann.

Ist das, wie Oliver Hennel eingangs etwas süffisant angemerkt hat, wirklich langweilig? Wer auf exotische technische Lösungen, schnell wechselnde Konzepte oder extravagantes Design steht, mag das so sehen. Wer dagegen in Lautsprecher investieren möchte, die ihr Geld auch langfristig wert sind, kann damit ganz gelassen leben. „Bei Canton steht immer der Kunde im Mittelpunkt“, sagt Hennel. Und Günther Seitz stellt klar: „Unser Ziel war von Anfang an, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu geben, gut Musik zu hören.“ Das wäre also, um einen Modebegriff zu strapazieren, die DNA der Marke. Und diesem Motto sind die Inhaber treu geblieben, haben über die Jahrzehnte der Versuchung widerstanden, sich in abgehobenen technischen Lösungen selbst zu verwirklichen.
Jeder Kunde soll im Canton-Sortiment seine Lösung finden, weshalb die Akustik- und Lautsprecherspezialisten aus dem Taunus auch sehr sorgfältig hinhören, wie sich die Hör- und Konsumgewohnheiten ändern. Am Anfang war der reine Hi-Fi-Gedanke, dann kam Car-Hi-Fi, später waren es Heimkino-Anwendungen. Aus dem aufwendigen 5.1-Heimkino mit seinem mehr als stattlichen Boxenensemble wurde schließlich die pragmatische Soundbar geboren. Und der aktuell dominierende Trend? Heute wird Musik in jede Richtung und jeden Raum gestreamt. „Wir müssen für all diese Anforderungen die passende Lösung bieten“, beschreibt der Juniorchef den Anspruch – und wohl auch das Erfolgsgeheimnis der Boxenbauer aus dem Taunus.

Märkte sind stetig im Wandel, das ist auch in der Industrie längst zu einem Naturgesetz geworden. Früher war Hi-Fi ein teures Statussymbol, heute wird Musik massenhaft konsumiert – das aber immer häufiger in immer schlechterer Qualität. Keine einfache Ausgangsbasis für einen Lautsprecherhersteller, der sich die Klangqualität und den Musikgenuss ganz oben auf die Fahne geschrieben hat. Hennel räumt ein: „Geschmack hat auch mit Wissen zu tun. Wenn ich nicht weiß, dass es diesen besseren Klang überhaupt gibt, werde ich ihn auch nicht vermissen.“ Wie also wieder Bedürfnisse wecken? Da müsse man auch über neue Vertriebskanäle nachdenken, schließlich schlägt Canton inzwischen den Bogen vom „High-End-Händler“ über den Discounter bis hinein ins Internet. War das Kaufen früher fast etwas geradezu Elitäres, so will der Kunde heute unmittelbar einkaufen und die Produkte auch sofort haben.
Bei Canton hat dieses veränderte Käuferverhalten auch zu größerer Kundennähe geführt. „Wir mögen es, wenn uns unsere Kunden besuchen“, beteuert Hennel. Die trinken dann schon mal einen Kaffee mit dem Chef, während ihr Lautsprecher repariert wird. Es gibt Interessenten, die nehmen zwei, drei Stunden Anfahrt in Kauf – und das „nur“ zum Musikhören. Verkauf ab Werk ist anschließend möglich, aber nicht die eigentliche Intention. Das entscheidende Argument für das Hörerlebnis direkt ab „Factory“: Canton hat mit inzwischen fast 500 Produkten ein mehr als stattliches Portfolio, das kein Händler der Welt vorführbereit halten kann. In einem Stereo- und einem zweiten Heimkino-Hörraum können die wichtigsten Produkte ausführlich probegehört werden. Wie groß ist der klangliche Unterschied zwischen einer Vento und eine Ergo wirklich? Wie sieht Kirschbaumfurnier im Vergleich zu einer Echtholzbox in natura aus? „Unsere Helden sind die Produkte, der Kunde soll Spaß haben“, erklärt Hennel. Dabei legt er größten Wert auf die folgende Feststellung: „Wir sind und bleiben eine Firma zum Anfassen.“

Und eine bewusst bodenständige, sollte man hinzufügen, die dieses Image auf eine ebenso sympathische wie bescheidene Weise pflegt und seit Jahren in Sachen „Klangerlebnis im Auto“ eng mit Škoda zusammenarbeitet. Warum nicht Bentley oder zumindest Audi aus dem weit aufgefächerten Markenimperium des Volkswagen-Konzerns? „Weil wir hervorragend zusammenpassen“, begründet Oliver Hennel die 2010 mit dem damals neuen „Superb“ ins Leben gerufene Partnerschaft. Die tschechische Traditionsmarke zählt zu den erfolgreichsten Aufsteigern im Autogeschäft, weil die Qualität stimmt und das Preis-Leistungs-Verhältnis überzeugt. Das stilsichere Design hat zusätzlich zum Verkaufserfolg beigetragen, vielleicht auch die Tatsache, dass es im Škoda inzwischen besonders viel Klang für bemerkenswert wenig Geld in Form eines Klangpakets aus dem Hause Canton gibt. Da treffen ehrliche Produkt- und Preisaussagen direkt aufeinander und erklären einmal mehr, warum diese Kooperation beiden Marken so gut zu Gesicht steht.

Auch die Wertevorstellungen haben sich verschoben, es geht nach Canton-Überzeugung nicht mehr um Statussymbole, sondern schlicht und einfach darum, gut Musik zu hören, sich dabei wohlzufühlen. „Auf einer Plattenbörse in Texas habe ich vor einiger Zeit erstaunlich viele junge Leute angetroffen“, erzählt Hennel von einer persönlichen Begegnung: „Da hat mir ein Mädchen erklärt, wenn das Tonabnehmersystem das Vinyl berühre, dann sei das wie Wellness. Weil man nicht mehr irgendwo schnell durchzappt, sondern die Musik förmlich wieder in der Hand hält.“ Wie schafft man also wieder mehr Bewusstsein für Musik als Klangerlebnis, wie bringt man die Menschen wieder weg von der reinen Laptopmusik? Für Canton ist die Streamingwelle zugleich unübersehbarer Hinweis auf das, was der Musikkunde heute vor allem will – nämlich ein Komforterlebnis. Wenn man sich die Welt des Streamings und der Multiroom-Beschallung ansieht, wird schnell deutlich: Erfolgreich ist, was einfach ist. Musik muss auf Knopfdruck spielen. Wenn sich der Laptop erst einmal auf Knopfdruck mit dem Verstärker verbinde und die Musik plötzlich über „richtige“ Lautsprecher richtig zu hören sei – dann sei es auch nicht mehr weit, bis sich ein neues Qualitätsbewusstsein entwickeln würde.
Obwohl Canton von der Produktseite her ähnlich breit aufgestellt ist wie ein VW-Konzern mit all seinen Marken, verzichten die Lautsprecherprofis aus dem Taunus auf Billigzukäufe und produzieren immer noch
alles selbst. „Unsere dienstältesten Mitarbeiter sind seit 44 Jahren im Unternehmen. Wir haben Mitarbeiterinnen, da hat schon die Mutter hier gearbeitet und die Tochter macht gerade ihr Praktikum bei uns“, erklärt Oliver Hennel die Verankerung der Firma in der Region. Ein Familienunternehmen, aufgestellt wie eine ganz große Familie, die ohne Akkord und Fließbänder auskommt, dafür aber größten Wert auf eine 100-prozentige Qualitätskontrolle legt. Jedes Produkt wird sowohl messtechnisch wie auch optisch von den Mitarbeitern auf Herz und Nieren geprüft, bevor es in den Verkauf geht.

Dabei ist der dynamische Lautsprecher eine Konstruktion ohne große Geheimnisse, die es im Prinzip so seit Jahrzehnten nahezu unverändert gibt. Beschränken sich Verbesserungen also vor allem auf das Design, während die Technik im und unter dem Holzgehäuse die Jahre und Jahrzehnte nahezu unverändert überstanden hat? Oder provokanter gefragt: Klingt ein neuer Lautsprecher wirklich besser als ein 20 Jahre altes Erbstück? Canton beantwortet die Frage mit einem eindeutigen „ja“. Neue Materialien stünden zur Verfügung, vor allem aber habe sich der gesamte Entwicklungsprozess grundlegend geändert. War früher ein langwieriger, kosten- und zeitintensiver Musterbau unerlässlich, so ließen sich heute Effekte sofort am Computer simulieren. Was passiert, wenn Stoff- durch Aluminium-Chassis ersetzt werden? Welche Wirkungen gehen von einem veränderten Magnetaufbau aus? Man könne jetzt viel tiefer in die Materie eintauchen, erklärt Oliver Hennel: „Wir sind experimentierfreudiger geworden und finden so zu neuen Materialien und weiterentwickelten Formen.“

Bei Canton ist ohnehin die Überzeugung fest verankert, dass sehr, sehr viel von der Chassis-Qualität abhängt. Neue Entwicklungen aus Aluminium entwickeln stärkeren Hub, können dadurch bei gleicher Leistung kleiner ausfallen und ermöglichen so kompaktere Lautsprecherkonstruktionen. Der aktuelle Entwicklungstrend zum Keramik-Chassis eröffnet wieder neue Möglichkeiten. Von der Innenverkabelung über die Frequenzweiche bis hin zum Gehäusematerial aus Mehrfachlaminaten läuft im Hintergrund ein stetiger Optimierungsprozess. Der im Fuß „versteckte“ Bassreflexkanal zum Beispiel, der kompaktere, wohnzimmerfreundlichere Proportionen ermöglicht. In jeder neuen Lautsprechergeneration steckt viel Neues – vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber eindeutig hörbar. Auch wenn ein Canton-Lautsprecher immer wie ein Canton-Lautsprecher auszusehen hat – hinter dem „zurückhaltenden“ Gesicht verbirgt sich jede Menge innovative Technik.
Ist Canton High End? Klanglich spielt eine Reference 1 K mit ihren satten 134 Kilogramm Lebendgewicht und ihrem perfekten Klavierlack-Finish zweifelsohne in der absoluten High-End-Liga. Typisch Canton bleibt dennoch auch hier der bescheidene Verzicht auf jeglichen Showeffekt – optisch wie klanglich. „Auffallen wollen wir lediglich durch Qualität“, fasst Günther Seitz ein weiteres Leitmotiv zusammen. Und stempelt den Taunus-Sound damit quasi zu einer „Jugendsünde“ ab, die den Lautsprecherbauern aus dem Taunus damals von den Testern aufgezwungen wurde: „Weil lautere Boxen in den Tests die besseren waren, haben wir das Spiel mitgemacht und uns zu einer Überhöhung des Wirkungsgrades verleiten lassen.“ Dieser Taunus-Sound ist aber längst Geschichte. Heute kommt nur noch ehrlicher Klang aus dem Taunus – selbst auf die Gefahr hin, dass der eine oder andere das als langweilig empfinden mag.

Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2018/19, Edition 02 erschienen. Zuletzt wurde der Artikel am 29.02.2024 aktualisiert.
Herausgeber des VOLUME-Magazins: HIGH END SOCIETY e. V., Verlag: MAXX8 GmbH
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