Mythos Verstärker
Autor: Wolfgang Tunze
Der Verstärker ist der zentrale, unerlässliche Stammspieler jeder Hi-Fi-Anlage: Sein Einsatz steht nicht so leicht zur Disposition. Höchstens, wenn in der analogen Vorstufe mal ein betagtes Potentiometer hörbar kratzt oder der Quellenumschalter den Kontakt nicht mehr sicher hält: Dann ist vielleicht doch der Weg auf die Reservebank eine angezeigte Maßnahme. Dabei lohnt es sich eigentlich, nicht nur Lautsprecher oder Tonabnehmer, sondern auch das Hi-Fi-Zentralorgan gelegentlich mit Alternativen zu vergleichen. Denn der Elektronikfortschritt macht auch vor dem Verstärker nicht halt. Wer Multikanal-Maschinen in einem Heimkino betreibt, weiß das ganz genau: Denn dort haben die digitalen HDMI-Eingänge Versionsnummern, wie es sie früher nur bei Computer-Betriebssystemen gegeben hat. Neue Bild- und Tonformate setzen die passende Eingangsgeneration voraus, sonst klappt der Transfer nicht, wie er soll. Schnittstellenthemen markieren auch die Modernisierungsschritte in der Hi-Fi-Welt: Netzwerkanbindungen über Kabel oder Funk, Streamingfähigkeiten über Bluetooth, Unterstützung von Übertragungsprotokollen wie Chromecast oder AirPlay, Zugang zu Roon und anderen Musikplattformen, neuerdings sogar Sprachsteuerung – all dies kann auch die Ausstattung von Verstärkern betreffen.
Also: Ein Leistungsträger mit 40 Betriebsjahren auf dem Buckel mag ein lieb gewonnener Hausgenosse sein. Aber er repräsentiert nicht mehr den Stand der Möglichkeiten. Das gilt sehr wohl auch für alle Ingredienzen, die den Klang bestimmen. Etwa, sofern im Gerät vorhanden, die Digital-Analog-Wandler. „Einen 20 Jahre alten Wandler können Sie im Prinzip wegwerfen“, sagt Andreas Hofmann, Geschäftsführer und Entwickler der High-End-Manufaktur Octave – wenn auch etwas ironisch provozierend. Tatsächlich haben sich Schnelligkeit und Auflösungsvermögen der Wandlerchips in dieser Zeit dramatisch erhöht. Das sieht Lothar Wiemann, Chefentwickler von T+A, ganz genauso und verweist ein bisschen stolz auf anspruchsvolle Eigenentwicklungen. Etwa auf einen Spezialwandler für serielle DSD-Signale, der, anders als viele kostengünstige Chips von der Stange, ohne Zwischenkonvertierung in ein PCM-Format und damit ohne entsprechende Verlustrisiken auskommt.
Auch bei den Leistungstransistoren ist die Entwicklung nicht stehen geblieben. Größere Schnelligkeit und höhere Bandbreiten markieren auch hier den Fortschritt – sowohl bei bipolaren als auch bei den Feldeffekttransistoren. Günther Mania, vor 33 Jahren Gründer und heute freier Entwicklungschef von AVM, hat lange Erfahrungen mit beiden Transistorgenerationen – und irgendwann beschlossen, sich von den bipolaren Varianten zu verabschieden: Er fand sie stets kapriziöser, nicht zuletzt,
weil sie durch zu hohe Steuerspannungen an der Basis leicht beschädigt werden können; Secondary Breakdown nennen die Experten das Phänomen. Heute arbeitet er gern mit Metalloxid-Feldeffekttransistoren (MOS FETs), die thermisch weniger empfindlich und vor allem sehr schnell sind: „Die Gegenkopplung“, sagt er, „die ja in der Transistortechnik unverzichtbar ist, kann hier sehr schnell eingreifen – eine gute Voraussetzung für die Konstruktion wirklich schneller Verstärker.“
Und wie steht es mit den Röhren? Das ist ein ganz eigenes Thema, um das sich viele Mythen ranken, das aber auch Protagonisten kennt, die mit beiden Beinen auf dem Boden harter physikalischer Fakten stehen. Mania gehört zu ihnen: Neben seiner Arbeit für AVM beschäftigt er sich seit einigen Jahren auch mit der Entwicklung von Röhrenverstärkern – und kommt gern ins Schwärmen, wenn er von ihren klanglichen Vorzügen erzählt. Von Meriten also, denen jeder Elektrogitarrist mit Blick auf seine bevorzugten Arbeitsgeräte sofort zustimmen würde. Monokausale Gründe hierfür lassen sich kaum formulieren; ein Aspekt könnte sein, dass Röhrenendstufen im Vergleich zu ihren transistorisierten Artgenossen keine oder nur eine deutlich geringere Gegenkopplung brauchen und den Lautsprecher somit weniger zähmen, ihm mehr Spielraum zur Entfaltung seines eigenen Charakters lassen. Ein anderes Argument könnte den im Vergleich zu vielen Transistortypen eher weiten linearen Arbeitsbereich betreffen.
Lothar Wiemann, grundsätzlich überhaupt kein Röhrengegner, hat dazu aber ein passendes Gegenargument parat. „Wenn man Leistungstransistoren mit ähnlich hohen Spannungen betreibt wie Röhren, also mit mehreren Hundert Volt, verhalten sie sich auch ganz ähnlich: Je höher die Betriebsspannung, ist desto linearer wird ihre Kennlinie. Ich handle mir also weniger Klirr ein, komme mit geringerer Gegenkopplung aus und erziele ein entspannteres Klangbild.“ Bei T+A ist das keine graue Theorie, sondern gelebte Realität: Die High-End-Baureihe mit dem Kürzel HV im Typennamen – es steht für „High Voltage“ – setzt ihre Leistungstransistoren tatsächlich unter so hohe Spannungen.
Was bleibt sonst noch vom Röhrenmythos? Vielleicht die Neigung glimmender Glaskolben, an der oberen Grenze ihres Leistungsvermögens dem Signal harmonische Oberwellen beizumengen, die um eine Oktave über dem Signal liegen und deshalb durchaus nicht unangenehm klingen? Streng technisch muss man solche Dreingaben zwar zu den Verzerrungen rechnen, doch Transistoren klirren deutlich zickiger. Aber solche Argumente würde Andreas Hofmann glatt zurückweisen. Sein Unternehmen Octave lässt zwar nichts als Röhrenklänge an die Ohren seiner Kunden, aber nicht, weil sie den Klang schönen oder kantige akustische Details rund schleifen würden. „Das könnten wir durchaus erreichen, wenn wir einfach mit 30 oder 40 Jahre alten Röhrenschaltungen arbeiten würden, was ja manche Mitbewerber tun“, sagt er. „Damals aber fielen die Unzulänglichkeiten zeitgenössischer Verstärkerlösungen gar nicht weiter auf, weil die gesamte Peripherie noch längst nicht das Auflösungsvermögen hergab, das wir heute von der Aufnahmeseite und von den besten Wiedergabegeräten gewohnt sind. Denken wir nur an die Präzision aktueller High-End-Plattenspieler oder das Auflösungsniveau hochwertiger digitaler Quellen. All dies wollen und können wir mit unseren modernen Röhrenschaltungen bis ins letzte Detail reproduzieren.“
Dass der Weg zum wirklich wahren Hi-Fi-Glück nur über die Röhre führen könne, würde aber selbst Hofmann nicht behaupten. Er lässt so- gar mehr als ein gutes Haar an Leistungsverstärkern, die manchmal et- was irreführend digital genannt werden. Schalt- oder Klasse-D-Endstufen sind sachlich richtige Namen, denn diese Verstärkerspezies zerlegt die Töne zwar in rechteckige Signalmuster, verfährt dabei aber in Anlehnung an die Wellen der entsprechenden analogen Schwingungen. Pulsweitenmodulation (englisches Kürzel: PWM) ist der Fachbegriff für das am weitesten verbreitete Verfahren. Noch vor Jahren galten PWM-Verstärker als klanglich seelenloses Low End. Aber damit wird man der Technik nicht mehr gerecht, zumal sie fast in allen Aktivlautsprechern, in Komplettanlagen und in vielen anderen Gerätschaften steckt, deren Marken durch- aus zur High-End-Gemeinde zählen. PWM-Endstufen werden überall da eingesetzt, wo es um Effizienz geht: Sie verwandeln über 90 Prozent der eingesetzten elektrischen Energie in Musik, entsprechend wenig also in Wärme. Folglich brauchen Schaltendstufen keine sperrigen Kühlkörper und sie entfesseln trotz kompakter Bauformen enorme Ausgangsleistungen.
Dass aktuelle Verstärker dieses Typs dabei hörenswerte Qualität ab- liefern können, hat wiederum mit großen Fortschritten in der Halbleitertechnik zu tun. Und Hofmann rechnet ganz pragmatisch vor: Wenn ein Verstärker zum Beispiel in ein Produktionsbudget von 1.500 Euro passen soll, wäre er auch mit Kompromissen behaftet, wenn er konventionelle Endstufen in Klasse AB-Technik hätte; das sehen seine Kollegen von AVM und T+A ganz genauso. Aber wie steht es mit Schaltnetzteilen, die eben- falls hohe Effizienz bieten und dabei mit vergleichsweise winzigen Transformatoren und entsprechend kompakten Bauformen auskommen? Sie stehen immer öfter für die Stromversorgung in Hi-Fi-Geräten gerade, ob- wohl auch sie nicht den besten Ruf genießen; manchen Puristen gelten
sie sogar als schiere Klangkiller. Hier neigen die Experten zu Differenzierung: Billige Netzteile von der Stange, die tatsächlich hart schalten und auf diese Weise jede Menge hochfrequente Oberwellen generieren, sind wirklich Störquellen ersten Ranges; sie haben in High-End-Geräten nichts zu suchen. Es gibt aber effiziente Netzteile, die mit hochfrequenten Sinus- wellen arbeiten, ebenfalls nur sehr kleine Transformatoren brauchen und kaum störende Oberwellen produzieren. Sie gelten als akzeptable Baugruppen. Günther Mania setzt sogar in einer seiner Röhrenendstufen ein Schaltnetzteil für die Kathodenheizung ein. „Ich brauche da 1,5 Ampere Strom bei möglichst konstanten 5 Volt – das ist mit einem Schaltnetzteil am einfachsten zu machen“, sagt er. „Ein konventionelles Netzteil würde eine Menge Platz brauchen und Wärme produzieren – nur um ein paar Heizfäden zum Glühen zu bringen.“
Mania leistet sich sogar noch einen anderen Tabubruch: Sein Röhrenvollverstärker Westend Audio Leo hat einen Bluetooth-Empfänger an Bord – fürs Musikstreaming direkt aus dem Smartphone. Hier treffen somit zwei Welten aufeinander – aber warum eigentlich nicht? Auch Wiemann findet das völlig in Ordnung: Bluetooth gehört heute zur Standardausstattung der T+A-Geräte. „Das ist ein Gebot der Convenience“, drückt er es neu- deutsch aus. „Selbst wenn ein 50-jähriger Kunde den Musikfunk gar nicht selbst nutzt, tun es mit Sicherheit seine Kinder.“ Und der Klang? „Der ist mit Codecs wie aptX überraschend gut“, findet er und weiß sich in diesem Punkt einig mit dem Urteil vieler hellhöriger Tester. Aber das Störpotenzial aus der Funkabteilung? „Überhaupt kein Problem“, sagt Wiemann. „Wenn Bluetooth nicht gebraucht wird, schaltet es sich bei uns automatisch ab. Das gilt auch für WLAN: Wird das Gerät über ein Ethernet-Kabel mit dem Heimnetz verbunden, hat auch diese Funksektion automatisch Pause.“
Wie viel nun von diesen Segnungen der Moderne im Verstärkergehäuse sitzen soll, wie viel besser in externen Komponenten aufgehoben ist, entscheiden Hersteller und ihre Kunden ganz nach Zweckmäßigkeit. Kompaktere All-in-one-Bausteine haben ebenso ihre Berechtigung wie spezielle separate Player-Komponenten, die alle digitalen Quellen ein- schließlich optischem Laufwerk und Netzwerkschnittstelle um einen hochwertigen Digital-Analog-Wandler gruppieren. Es führen viele Wege zum Hi-Fi-Glück – nur: Wer Experimente meidet, bringt sich um viel Spaß und überraschende Erkenntnisse.
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2019, Edition 04, erschienen (Printmagazin). Zuletzt wurde der Artikel am 16.02.2023 aktualisiert.
Herausgeber des VOLUME-Magazins: HIGH END SOCIETY e. V., Verlag: MAXX8 GmbH
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