Schwarze Magie
Autor: Klaus-Peter Bredschneider
Märchen beginnen in der Regel mit einem „Es war einmal ...“. Auch unsere Geschichte klingt nach Märchen. Es war einmal ein Hi-Fi-Enthusiast, der traf auf einer Party ein Mädchen, das einen Plattenspieler geschenkt bekommen hatte, mit dem es nichts Rechtes anzufangen wusste. Die Begegnung spielte Ende der 1980er-Jahre im Wien der Wendezeit, als sich der Sozialismus in den Nachbarländern langsam aufzulösen begann. Das Mädchen war die Tochter des tschechischen Botschafters, und unser junger Enthusiast ein damals noch völlig unbekannter, kleiner Hi- Fi-Händler. Der Plattenspieler hatte nicht nur sein Interesse geweckt, er erkannte auch sofort das Potenzial: Der schwere Plattenteller, das solide MDF-Gehäuse, das Lager aus Saphir – allesamt beste Voraussetzungen für einen tollen Plattenspieler. Unser Hi-Fi-Enthusiast wechselte den Tonabnehmer und die Kabel, tauschte die billige Plastikmatte aus – und war begeistert. Er fuhr nach Tschechien, ergatterte die Restexemplare, weil die Fabrik gerade dichtgemacht wurde, modifizierte diese und versorgte damit zunächst nur Freunde. Und wie es der Zufall wollte, fand eines dieser Exemplare den Weg in die Testredaktion von stereoplay und wurde dort als bester Plattenspieler unter 1.000 Euro in die Spitzenklasse 1 eingestuft.
So weit die Vorgeschichte eines Märchens, das nun erst richtig Fahrt aufnahm. Für Heinz Lichtenegger, so der Name unseres Hi-Fi-Enthusiasten, gab es kein Halten mehr. Kurz entschlossen konnte sich die grundsolide Fabrik in Tschechien über einen Partnervertrag aus der kommunistischen Klammer herauslösen und die Fertigung über eine Produktions- und Abnahmegarantie retten. Zuvor hatte Lichtenegger ein paar akustische Modifikationen vorgenommen und auch die Lackqualität sichtbar verbessert – fertig war der Pro-Ject P1, der bis heute nahezu unverändert hergestellt wird. „Er läuft und läuft und läuft“, war einst das Motto von Volkswagen für den Käfer, bis die Produktion des bis dahin mit über 20 Millionen Exemplaren weltweit erfolgreichsten Autos 2003 auch im mexikanischen VW-Werk endgültig eingestellt wurde. Der P1 ist im Laufe der Jahre zum „Käfer“ unter den Plattenspielern avanciert – nur mit dem Unterschied, dass er sich immer noch dreht und dreht und dreht.
Aber auch das gesamte Pro-Ject-Projekt wurde zu einer weltweit einzigartigen Erfolgsstory: Heute lässt Heinz Lichtenegger in insgesamt drei Werken in Tschechien und der Slowakei nach dem Prinzip der verlängerten Werkbank mit bis zu 500 Mitarbeitern – in der ersten Fabrik waren es ursprünglich knapp 50 – jedes Jahr rund 150.000 Plattenspieler produzieren, die längst in keinem guten Hi-Fi-Geschäft mehr fehlen dürfen. Aus einer zufälligen Begegnung und einem geschenkten Plattenspieler war die Weltmarke Pro-Ject entstanden. Aus dem kleinen Hi-Fi-Händler und Enthusiasten ist in knapp drei Jahrzehnten ein Weltmarktführer geworden, wie sie ihn in seiner österreichischen Heimat gerne stolz betiteln. „Umsatzmäßig dürfte das stimmen“, gibt sich Lichtenegger bescheiden, „nach Stückzahlen liegen allerdings inzwischen wieder die Chinesen vorne, die voll auf den Trend aufgesprungen sind und den Markt gerade mit Billigware auf Spielzeugniveau und weit weg von Hi-Fi-Niveau überschwemmen.“
Zur Erinnerung: Vor 30 Jahren war die CD gerade an ihrem Zenith angekommen, keiner hat damals das Potenzial der schwarzen Scheibe so messerscharf erkannt und sich ähnlich hartnäckig dem Thema gewidmet wie Heinz Lichtenegger. Manche nennen ihn deshalb sogar den Steve Jobs des Plattenspielers, wobei der Vergleich so abwegig nicht ist, schließlich verbindet die beiden schier grenzenlose Akribie und ein geradezu visionärer Weitblick.
Seit drei Jahrzehnten mischt der dynamische, inzwischen erkennbar grau melierte Endfünfziger also die Analogszene weltweit auf. Als begnadeter Schnellsprecher ist Lichtenegger nie um eine Erklärung verlegen und selbst sein bester Marketingmann. Keiner kann die Pro-Ject-Philosophie besser verkaufen als der Chef persönlich. Über 60 unterschiedliche Plattenspielermodelle umfasst die Produktfamilie inzwischen, die Preisspanne beginnt bei gut 200 Euro und endet in einer Preisklasse um die 10.000 Euro. An seinem ursprünglichen Konzept hat er bis heute festgehalten: ein möglichst einfaches Grundprinzip mit möglichst hochwertigen Materialien zu realisieren. Qualitativ hochwertig und zugleich erschwinglich sollen seine Plattenspieler sein, die sozialen Ideale des Bauhaus schimmern durch. Folglich fasst er seine Überzeugung auch in einem Satz zusammen: „Weniger ist mehr.“ Kein Schnickschnack, allein der Klang zählt.
Diese Firmenphilosophie ist die Grundlage seines Erfolgs geblieben, die er auch auf andere Produkte übertragen hat. Weil moderne Verstärker oft keinen speziellen Plattenspieler-Vorverstärker mehr eingebaut haben, hat Lichtenegger einen kleinen Zusatzverstärker bauen lassen, die Phonobox. Das war zugleich der Einstieg in ein umfassendes Elektroniksortiment, nach eigener Aussage hat Pro-Ject inzwischen sogar die größte Auswahl an Hi-Fi-Geräten auf dem Markt, alles selbst produziert in einem weiteren Werk in Tschechien und einem in der Slowakei. Der Partner, mit dem er einst die erste Fabrik aus der sozialistischen Umklammerung lösen konnte, ist auch heute noch sein Geschäftspartner. Lichtenegger gehört die Marke Pro-Ject, an der Fabrik ist er beteiligt, sie produziert exklusiv für ihn, wobei er längst ein gewaltiges OEM-Geschäft aufgebaut hat und seinerseits für ein knappes Dutzend weitere Marken produziert.
Lichtenegger betrachtet sich selbst nicht als mutigen Propheten. Auf die Vinyl-Renaissance habe er seinerzeit weder gehofft noch spekuliert. Nein, er war sich seiner Sache absolut sicher und hatte sie einfach kommen sehen. Als leidenschaftlicher Musikhörer wusste er nämlich von Anfang an um die Grenzen der CD: „Wir wollen ja bewusst Musik hören und uns intensiv mit einer Sache beschäftigen. Und wer bewusst hören will, nimmt sich auch die Zeit, eine Platte aufzulegen.“ Genießer machten gern einen Kult aus ihrer Leidenschaft, und dafür sei die CD einfach nicht geeignet.
Natürlich sei das für 80 Prozent der Menschen uninteressant, räumt Lichtenegger ein: „Wir bewegen uns in einer Nische.“ High End ist für den Plattenspieler-Profi ein gefährlicher Begriff, weil viele damit vor allem dicke Kabel und zentnerschwere Verstärker verbinden. „Für mich ist High End die bewusste, intensive Zuwendung zur Musikwiedergabe zu Hause“, erklärt er. Das sei auch keine Frage des Preises, sondern der Einstellung – wenn zum Beispiel der richtige Verstärker zum passenden Lautsprecher und Plattenspieler findet. „Auch eine Hi-Fi-Anlage für 1.000 Euro kann für mich High End sein, wenn man sie richtig konfiguriert und gekonnt betreibt.“ Es sei wie beim Essen. Wenn einer nicht kochen kann, helfen auch die besten Zutaten nicht. Natürlich räumt Lichtenegger ein, dass es fantastische High-End-Geräte mit liveähnlicher Klangqualität gebe. Aber: „Die letzten Prozent erkauft man sich sehr teuer, High End kann dann ein sehr kostenintensives Hobby werden.“ Und man müsse aufpassen, dass es nicht in Fetischismus abgleite, dass man sich nicht gegenseitig beweihräuchere. Das führt seiner Überzeugung nach in die Sackgasse und schrecke wahre Musikliebhaber ab: „Wir verkaufen tolle Materialien, tolles Design, tolle Mechanik, wir müssen aber vor allem Emotionen verkaufen. Über allem steht nämlich der Klang – der aber ist wie ein guter Wein oder ein gutes Essen subjektiv.“
Lichtenegger ist kein Fundamentalist, er betreibt sein Plattenspielergeschäft frei von jeder Ideologie. Ob Subchassis-Konstruktion oder Masselaufwerk, an solchen Auseinandersetzungen mag er sich gar nicht erst beteiligen. Alles habe seine Berechtigung, es gebe viele Möglichkeiten, einen guten Plattenspieler zu bauen: „Wir sind allerdings weltweit der einzige Hersteller, der sämtliche Technologien beherrscht.“ Die Kunst bestehe letztlich darin, die Dinge bezahlbar zu machen. "Wenn man einen Plattenspieler preisgünstig anbieten will, kann man kein Masselaufwerk konstruieren", erklärt Lichtenegger. Dann müsse man ein stabiles Leichtchassis so konstruieren, dass es die Energie bestmöglich abtransportiert: "Deshalb sind alle meine Einsteigerprodukte energieableitende Konstruktionen." Die wahre Qualität eines Schallplattenspielers zeigt sich bekanntlich in einem möglichst fehlerfreien mechanischen Auslesen der in den Tonspuren enthaltenen Informationen durch das Tonabnehmersystem. Fehlerfrei heißt frei von Erschütterungen und Resonanzen, die das Gehäuse, der Plattenteller beziehungsweise die gesamte Konstruktion zu absorbieren respektive fernzuhalten haben. Ein schweres Masselaufwerk absorbiert naturgemäß mehr Energie, weil mit Zunahme der trägen Masse die Resonanzen abnehmen. Masse ist hier – in Anlehnung an das Motto der Motorenbauer vom unersetzlichen Hubraum – durch nichts zu ersetzen, es sei denn durch noch mehr Masse und noch schwerere Plattenteller. In den höheren Preisklassen setzt Pro-Ject deshalb auf Laufwerke, die mit ihrer schieren Schwungmasse die gewünschte Ruhe in den sensiblen Abtastvorgang bringen.
Selbstverständlich hat Lichtenegger aber auch den ideologischen Gegenentwurf im Programm – nämlich Subchassis-Konstruktionen, die versuchen, den inklusive Tonarm federnd aufgehängten Plattenteller von Umwelteinflüssen zu entkoppeln, die dadurch aber wiederum selbst Resonanzen erzeugen. Streng genommen spielt auch noch das Gehäusedesign eine Rolle, weil runde Formen weniger stehende Wellen zur Folge haben. Rund um den perfekt entkoppelten Plattenspieler toben also heftige ideologische Auseinandersetzungen – für Lichtenegger allerdings eine müßige Diskussion, „weil wir in Konstruktion und Produktion ein- fach alles beherrschen“.
Hat der erfolgreichste Plattenspielerproduzent der Welt überhaupt eigene Erfindungen beizutragen? „In der Plattenspielerwelt ist alles schon einmal da gewesen“, gesteht Lichtenegger. Wenn jemand von eigenen Erfindungen spricht, werde er misstrauisch: „Ich habe daheim eine Sammlung von rund 70 High-End-Plattenspielern als Inspirationsquelle, darunter fantastische Konstruktionen, die längst in Vergessenheit geraten sind.“ Aber wirkliche Innovationen? „Wir machen inzwischen unsere Platten- tellermatten aus recyceltem Vinyl, weil Vinyl auf Vinyl am besten klingt.“ Selbst das habe es auch früher schon gegeben, schränkt Lichtenegger ein. Aber: „Wir haben es als Erster in Serie umgesetzt und erschwinglich gemacht.“ Damit wäre auch ein wesentliches Erfolgsgeheimnis der Marke gelüftet: High-End-Technologie intelligent und erschwinglich machen.
Das magnetabstoßende Plattentellerlager zum Beispiel, das den Plattenteller gleichsam schweben lässt. „Wir haben das Prinzip nicht erfunden“, sagt der Produzent: „Wir haben es erstmals in einem Plattenspieler für 2.000 Euro realisiert und damit halbwegs erschwinglich gemacht.“ Auch Hightechmaterialien wie Carbon sind in Plattenspielern nicht neu – wohl aber in der Preislage, in der es von Pro-Ject eingesetzt wird.
„Unser Ziel ist es, so viele Personen wie möglich für das wunderbare Hobby Hi-Fi zu begeistern und ihnen ein echtes Stereo-Erlebnis zu attraktiven Preisen zu bieten“, sagt der erfolgreichste Hi-Fi-Plattenspielerhersteller über sich selbst. Der geradezu märchenhafte Aufstieg vom kleinen Einzelhändler zum mächtigen Weltmarktführer beweist, dass das keine leeren Sprüche sind. Inzwischen warnt Lichtenegger aber vor einer Abkühlung des Interesses: „Es ist der Industrie ja immer wieder gelungen, Themen mit schlechter Qualität kaputt zu machen.“ So sei die CD auch an immer schlechteren Playern gescheitert und das Heimkino an immer einfacheren Lautsprechern. Aktuell überschwemmen billige Plastikplayer den Markt und drohen, den guten Ruf der schwarzen Scheibe zu ruinieren: „Wir müssen ständig für unsere schöne analoge Bühne kämpfen, die wir in den letzten Jahren aufgebaut haben.“ So wie wir den „Vater des Erfolgs“ kennengelernt haben, wird er den Kampf gegen die Anspruchslosigkeit nicht nur aufnehmen, sondern mit überzeugender Qualität auch gewinnen.
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2019, Edition 04, erschienen (Printmagazin). Zuletzt wurde der Artikel am 10.02.2023 aktualisiert.
Herausgeber des VOLUME-Magazins: HIGH END SOCIETY e. V., Verlag: MAXX8 GmbH
Das komplette VOLUME-Magazin (Print) können Sie unter folgendem Link bestellen: VOLUME-Magazin.
Copyright: Der Beitrag ist urheberrechtlich geschützt. Der Autor wie Fotografen haben die Nutzungsrechte an den Verlag zur ausschließlichen Nutzung im Zusammenhang mit VOLUME übertragen.