Faszination Lautsprecher
Autor: Wolfgang Tunze
Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Damit meinte Bundeskanzler Helmut Kohl anno 1984 natürlich seine Regierungspolitik. Aber der unsterbliche Satz passt auch wunderbar zu allem, was sich mit den Gütesiegeln Hi-Fi und High End schmückt. Besonders zum Ende jeder Anlage – zum Lautsprecher. Denn als letztes Glied steht er für Klangerlebnis der gesamten Kette gerade und kassiert, wenn alles gut geht, die Lorbeeren – da können seine vorgeschalteten Zuträger noch so glanzvolle, oft genug sogar die entscheidende Arbeit leisten. Die Faszination, die gerade von der Schlusskomponente ausgeht, hat vielerlei Gründe. Gestandene Dimensionen zählen sicher dazu, aber mehr noch der sinnlich erfahrbare Beitrag zu einem physikalischen Gesamtkunstwerk, das Hi-Fi-Anlage heißt.
Als elektromechanischer Wandler agiert der Lautsprecher vor aller Augen an den Grenzen zweier Welten, erzeugt nicht nur hörbare, sondern aus kurzer Entfernung sogar auf der Haut spürbare Schwingungen, während die stumme Elektronik ihr abstraktes Wirken diskret verbirgt und ohne die Schlusskomponente eigentlich nur Messbares zustande bringt. Als Mittler zwischen den Phänomenen des Elektrischen und der Mechanik hat er Aufgaben, die noch weit über diesen Job hinausweisen. Denn er arbeitet in einer Umgebung, die auf vielfältige Weise auf seine Aktivitäten reagiert. Wände werfen Schall zurück, eingeschlossene Luft gerät in Resonanz, Flächen schwingen mit. Und der ideale Lautsprecher umspielt alle Herausforderungen souverän, als hätte er sie längst geahnt, integriert sie womöglich sogar in seinen Auftritt, um dem Zuhörer das Gefühl zu vermitteln, mitten im Geschehen zu sitzen: Genau so stimmt es. Dabei sein ist alles.
Kein Wunder also, dass um den richten Weg zum Idealwandler immer wieder Debatten entbrennen wie an den Philosophenschulen im antiken Athen. Soll der Lautsprecher etwa den Hörraum möglichst einbeziehen,
um dem Zuhörer jenes Gefühl von weiter Umgebung zu vermitteln, das er auch in einem Konzertsaal erlebt? Dann hätte etwa ein Dipolstrahler perfekte Voraussetzungen für einen naturnahen Einsatz in den privaten vier Wänden. Oder soll er den Ton wie den gebündelten Lichtkegel eines Scheinwerfers auf die Ohren des Zuhörers richten, um ihnen aus kurzer Distanz einen möglichst hohen Anteil an Direktschall zuzuspielen und den hörbaren Einfluss der Reflexionen im Wohnzimmer also möglichst gering zu halten? Abhörmonitore im Studio funktionieren so, und wer auf solche Wiedergabe auch vor dem Wohnzimmersessel schwört, hat dafür ein Argument parat, das zumindest nicht abwegig ist: Die für das Gefühl von Raumgröße verantwortlichen Schallanteile sollten ja schließlich schon in der Aufnahme stecken. Aber natürlich sind die Dinge komplizierter: Auch eine Aufnahme ist ja ein Artefakt; sie entsteht zu einem erheblichen Teil am Studiomischpult – unter den Händen eines Tonmeisters, der sehr wohl weiß, dass seine Adressaten weder im Konzertsaal noch in schalltoten Räumen wohnen. So versucht er, seine Abmischung an reale Lebensumgebungen anzupassen, wie auch immer diese im Einzelfall auch aussehen.
Debatten aber gibt es nicht nur um solche Grundsatzfragen. Sie speisen sich auch aus einer Fülle widerstreitender Detailanforderungen an Konstruktionen und Material. Für die höchsten hörbaren Töne etwa muss eine Membran 20.000 Mal in der Sekunde irrwitzig beschleunigen, scharf abbremsen, zurückschwingen und diesen Weg noch einmal in entgegengesetzter Richtung zurücklegen. Membranen für diese flinke Feinarbeit haben im theoretischen Idealfall eine Masse, die gegen null tendiert. Jedes Quäntchen mehr ist auf dieser Tour de Force kontraproduktiver Ballast. Für die tiefsten Töne dagegen gelten ganz andere Pflichten: Hier muss die Membran viel Luft bewegen. Dafür braucht sie passende Eigenschaften – typischerweise eine große Fläche und die nötige mechanische Stabilität. Schon daraus ergeben sich elementare Zielkonflikte. Mehrwege-Konstruktionen mit spezialisierten Wandlern sind typische Antworten.
Wie sich das Frequenzspektrum am besten auf mehrere Schallwandler aufteilen lässt, dafür gibt es fast ebenso viele Rezepte wie Lautsprechermodelle, und für jedes hat der Entwickler gute Argumente parat. Eine Forderung ist etwa, den Grund- und den oberen Mitteltonbereich nur einem einzigen Chassis anzuvertrauen, um eine homogene Wiedergabe von Stimmen und Instrumenten zu gewährleisten. Für einen größeren Zweiwegelautsprecher ist das durchaus eine Herausforderung: Der Tief-Mitteltöner muss dann auch noch in Frequenzregionen aufspielen, die ihn in die Nähe von unerwünschten Stressphänomenen rücken: Musiziert er allzu hoch, bewegt sich seine Membran nicht mehr kolbenförmig, sondern bildet Teilschwingungen aus – Oberwellen also, die als Verzerrungen das Klangbild beeinträchtigen können. Und er bündelt die Schallabstrahlung zu oberen Frequenzen hin immer stärker, was sich aus dem Verhältnis zwischen abgestrahlter Wellenlänge und dem Membrandurchmesser ergibt.
Es ist dies ein Problem, mit dem alle Mehrwegelautsprecher zu tun haben: Am unteren Ende ihres jeweiligen Übertragungsbereichs strahlen ihre Membranen den Schall in einem relativ breiten Winkel ab, der mit steigender Frequenz immer schmaler wird. Übernimmt dann das nächstkleinere Chassis den nächsthöheren Part der Tonleiter, beginnt diese Verhaltensänderung aufs Neue. Lautsprecherentwickler müssen also mit der Auswahl der Chassis und der Festlegung der Übertragungsbereiche auch diesen Effekt ins Kalkül ziehen: Ihr Ziel muss stets sein, ein möglichst gleichmäßiges Abstrahlverhalten ohne allzu große Sprünge zwischen weit und eng zu erzielen, damit der Lautsprecher selbst dann noch aus- gewogen klingt, wenn sich der Zuhörer durch den Raum bewegt und auch einmal aus seitlicher Position lauscht.
Ein unerschöpfliches Reservoir für Fachdiskussionen ist natürlich auch die Frage nach den idealen Werkstoffen. Manche Spezialisten vertrauen zum Beispiel die Obertöne nur hauchzarten Folienwandlern an – eben der geringen Masse wegen. Andere schwören auf Seidenkalotten, von deren innerer Dämpfung sie begeistert sind. Kalotten und Konusmembranen aus beinhartem und zugleich federleichtem Keramikmaterial erleben derzeit sogar Hochkonjunktur. Dieser Werkstoff hat aber auch seine Tücken: Er bildet am oberen Ende seines Übertragungsbereichs gern scharfe Eigenresonanzen aus, die nur dann unschädlich bleiben, wenn die Frequenzweichen sie mit steilflankigen Filtern ausgrenzen. Je steiler und komplizierter aber die Weichenfilter geraten, desto stärker neigen sie zu Überschwingern, die dann wieder andere Kompensationsmaßnahmen erfordern – ganz gleich übrigens, ob analoge oder digitale Schaltungen die Filterarbeit leisten.
Solche Betrachtungen ineinander verwobener Kausalketten entlocken selbst altgedienten Lautsprecherentwicklern gelegentlich einen Stoßseufzer: Jede Lösung für ein Problem ruft ein anderes auf den Plan – oder gleich mehrere. Die Kunst der Lautsprecherentwicklung ist also die Balance auf dem schmalen Grat sorgsam austarierter Kompromisse. Das weiß nicht jeder Technik-Laie, aber er spürt es, wenn er einen gelungenen Schallwandler vor sich hat.
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2020/2021, Edition 05, erschienen (Printmagazin). Zuletzt wurde der Artikel am 31.01.2023 aktualisiert.
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