Wie lebt es sich so als Genie? „Na, nicht zu schlecht“, lächelt Steven John Wilson, trotz legerer Kleidung ganz englischer Gentleman, „solange man mich nicht in eine dieser beiden Schubladen steckt.“ In der Tat täte man dem britischen Musiker, der am 3. November 2019 seinen 52. Geburtstag feierte, fast schon Gewalt an, wenn man ihn einengen würde auf „Prog-Rocker“ und „Remasterer“. Als Musiker ist er definitiv mehr als „nur“ der Retter des Progressive Rock, als den ihn manche Jünger verehren, als Studiotechniker macht er eindeutig mehr als nur alte Aufnahmen etwas lauter.
Der Mann mit der markanten Hornbrille und den halblangen Schnittlauchlocken als Markenzeichen hat wahrlich mehr Meriten. So sammelte er zum Beispiel extrem viele Sympathiepunkte in der Wohlklanggemeinde, als er auf der Münchner Messe HIGH END 2019 – der weltweit größten Messe für gehobene High Fidelity – einen so würdigen wie bescheidenen Markenbotschafter gab. Fast schon verblüfft konnten Wilson-Fans, die ihn vor zwei Jahrzehnten noch als etwas ungelenken, in sich gekehrten Nerd kennengelernt hatten, seine Wandlung zum eloquenten, weltgewandten und auch vor größerem Publikum geistreichen und humorvollen Zeitgenossen registrieren.
Der Multi-Instrumentalist, im Sgt. Pepper-Jahr 1967 geboren, begann seiner Musikerkarriere 1987 in einem Trio mit dem Songschreiber Tim Bowness und dem Geiger Ben Coleman als No Man Is An Island, die 1989 zwei EPs (Extended Play, mit jeweils vier Titeln) veröffentlichten. 1990 zum Duo als No-Man verkleinert, brachten Wilson und Bowness 1990 eine 12-Inch-Maxisingle heraus, die mit „Colours“ einen Song des Barden Donovan enthielt.
Doch 1991 begann dann mit On The Sunday Of Life langsam, aber sicher die Laufbahn der „mehr aus Versehen“ gegründeten Band Porcupine Tree, die bis 2009 künstlerisch in immer höhere Sphären abhob – und Wilson das ungeliebte Etikett „Prog-Rocker“ umband. „Ich habe mich nie als Prog-Rock-Künstler bezeichnet“, stellte der Multiple-Musiker in einem Interview klar. „Das ist eine Einstufung der Medien, mit der ich nie besonders glücklich war.“ Natürlich hat er mit dem „Stachelschwein-Baum“ durchaus auch kommerziell erfolgreich – im Rahmen dessen, was mit dieser nur bedingt charttauglichen Musik möglich war – der Prog-Gemeinde reichlich herrliche Früchte beschert.
Doch wenn man sich die vielen Projekte anschaut und die damit verbundene extreme stilistische Bandbreite anhört, die Wilson im Laufe der Zeit verwirklicht hat, dann versteht man seine Abneigung gegenüber dem limitierenden Etikett. Da wäre zum Beispiel das Projekt Incredible Expanding Mindfuck, sittenstreng abgekürzt zu I.E.M., das von 1996 bis 2001 eine Mischung aus klassischem Rock und Krautrock – jener aus Deutschland stammenden, von Bands wie Neu! Oder Can in den 1970ern kultivierten „maschinellen“ Pop-Variante – präsentierte. Oder das noch bis 2012 weitergeführte Duo No-Man, das mal jazzige, mal kleinorchestral grundierte Singer-Songwriter-Musik kredenzte. Oder das fast schon reine Pop-Duo Blackfield mit dem israelischen Songschreiber Aviv Geffen. Oder die normale Rock-Konsumenten eher langweilenden, mit Drone- und Ambientklängen experimentierenden Alben mit Bass Communion oder Continuum. Oder das mit dem schwedischen Sänger und Gitarristen Mikael Åkerfeldt von der Prog-Metal-Band Opeth 2010 ins Leben gerufene, ein wenig das Porcupine-Tree-Erbe pflegende Projekt Storm Corrosion. Von den nicht mehr überschaubaren Mitwirkungen bei befreundeten Solisten und Bands mal ganz abgesehen.
Steven Wilson dürfte zu den vielseitigsten – und begabtesten – Musikern dieses Planeten zählen. Wer sich auf seiner homepage www.stevenwilsonhq.com bis zur „Complete Discography“ durchklickt, stößt auf 1.150 Einträge auf 564 Seiten – bis Mai 2015! Weiter ist der fleißige Ersteller und Rechercheur Uwe Häberle in der zehnten (!) Auflage noch nicht gekommen ...
Auch unter eigenem Namen veröffentlichte Wilson fröhliche Vielfalt. Fast schon legendär ist die Folge von sechs CD-Singles. Auf diesem heute fast schon vergessenen Format brachte Wilson zwischen 2003 und 2010 jeweils einen eigenen Song und ein sogenanntes Cover, also eine eigene Version eines fremden Liedes unter. Unter den gecoverten Künstlern finden sich neben den britischen Gothic-Rockern The Cure oder der Rock-Chanteuse Alanis Morissette auch – festhalten – ABBA, die schwedischen Pop-Könige der 1970er. Alle zwölf Titel gibt es seit 2014 auch auf einer CD.
Aber, Schublade auf, Schublade zu: Als das größte, ergreifendste, nachhaltigste Meisterwerk im Wilson-Kosmos erweist sich The Raven That Refused To Sing (And Other Stories) – und dieses Zentralgestirn strahlt definitiv in der Galaxie des Progressive Rock. Wobei „progressiv“ mittlerweile irgendwie ein Widerspruch in sich ist. Fortschrittlich war diese Art abwechslungsreicher Rockmusik – mit ausgearbeiteten Songstrukturen auch mal weit über die 4-Minuten-Grenze, mit harmonischen, rhythmischen Finessen, die auch mal Fertigkeiten und Kenntnisse jenseits des Blues-Schemas erfordern – vor 50 Jahren. Heute gilt sie vielen ach so fortschrittlichen Konsumenten und Kritikern als rückwärtsgewandt, elitär oder gar als nicht rockkompatibel. Nun ja, tanzen, Mädels anmachen oder chillen kann man zur Musik von The Raven ... sicher nicht. Aber Musiker und scheuklappenbefreite Musikkritiker beeindrucken schon. Der Autor steht somit in seiner Bewunderung nicht allein. The Raven ... gewann als Album of the Year den Progressive Music Award 2013 – und unlängst kürte das einschlägige Musikmagazin eclipsed die Superscheibe zur Nummer eins der „Top 50 Prog-Rock-Alben des Jahrzehnts“.
Das Jahrzehntwerk gewinnt nochmals in den Fassungen, die Wilson 2019 auf Blu-ray-Disc (BD) vorlegte. Darauf ist es in einer mehrkanaligen 5.1-Surround-Abmischung sowie in einer hochauflösenden Stereo-Fassung zu hören. Die hat natürlich auch Steven Wilson erstellt – und damit kommen wir auf die andere Seite des Mischpultes, wo der Produzent und Tontechniker, der Mixer und der Masterer Steven Wilson ebenso souverän, vielseitig und meisterhaft agiert wie als Musiker.
Der technikvernarrte Autodidakt hatte sich schon in der Jugend sein eigenes Studio No Man’s Land eigerichtet. Dort schaffte er sich im Laufe der Jahre mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit und Akribie alles drauf, was man zur Klangveredelung braucht. Mit der Zeit erarbeitete er sich so auch einen Ruf als feinnerviger, goldohriger und einfühlsamer Studio-Hexer, den sich viele Künstler an die unzähligen Regler, Knöpfe, Zauberkistchen und Plug-ins moderner Aufnahmetechnik holten. Und somit zu der gigantischen Diskografie um Wilsons Wirkungskreis beitrugen. Doch nicht nur bei Neuproduktionen ist er gefragt, auch für die Aufbereitung alter Meisterwerke der Pop- und Rockgeschichte holen ihn die ergrauten Masterminds gerne heran. So etwa Ian Anderson von Jethro Tull, Robert Fripp von King Crimson, die Chefs von Yes oder auch die Jungs von Tears For Fears.
Oft werden Neuausgaben als „Remaster“ angepriesen, zu- weilen mit dem Aufdruck „remastered from the original master tapes“. Doch so richtig „re“ ist das meistens nicht. Von vielen legendären Alben existieren keine „original master tapes“ mehr. Die temperatur- und feuchtigkeitsempfindlichen Magnettonbänder sind entweder längst vermodert, gelöscht, digitalisiert, verschwunden oder zerstört wie im Falle vieler Master aus dem Reich des Tonträgergiganten Universal, wo ein Großfeuer im kalifornischen Hollywood am 1. Juni 2008 viele unersetzliche Bänder unwiederbringlich vernichtete. Doch selbst ohne solche Katastrophen haben die Neu-Herausgeber meist nur Bandkopien oder schon digitalisierte Files der alten Master, also der schon fertig auf zwei Stereo-Kanäle (oder früher einen Mono-Kanal) abgemischten Alben. Die lassen sie nun alle möglichen Prozesse durchlaufen wie Entrauschung, Entbrummung, Equalizing zur Anhebung oder Absenkung bestimmter Frequenzbereiche, vor allem aber: Kompression.
Dieses Absenken lauter Stellen, sogenannter Dynamikspitzen, und Anheben leiser Stellen hat sich seit den 1990er-Jahren zu einer Seuche im Pop-Tonträgerbereich ausgeweitet. Stellen Sie sich eine abwechslungsreiche Gebirgslandschaft vor mit schmalen Gipfeln und tiefen Tälern. Dann werden die Gipfel abgetragen und die Täler zugeschüttet. Was bleibt: Langeweile. So ähnlich funktioniert Dynamikkompression. Auf den ersten Höreindruck wirken die behandelten Stücke lauter – und damit eindringlicher und durchsetzungsfähiger in unserer zunehmend lauteren Welt. Denn der Durchschnittspegel kann viel näher ans Limit geschoben werden. Doch auf die Dauer reagiert das Ohr beziehungsweise das Hörzentrum im Gehirn nur noch gelangweilt oder schlimmer: gestresst.
Genau diesem Kompressionswahn, dem sogenannten „Loudness War“, hat Steven Wilson den Krieg erklärt. „Leise Bits bleiben leise, laut Bits bleiben laut. Was ist daran so schwierig?“, bringt er seine Achtung vor der Originaldynamik auf den Punkt. Ab und an mal eine kurzfristige Spitze (etwa ein S-Laut oder ein Beckenschlag) um zwei bis drei Dezibel kappen – mehr ist nicht, und das bleibt normalerweise auch ungehört, erlaubt aber sonst etwas „fetteren“ Sound. Doch der Meister geht weiter. Er fertigt wirklich neue Master, also echte Re-Master. Und dafür nutzt er die alten Mehrspurbänder. Diese sogenannten Multitracks auf 1⁄2-, 1- oder gar 2-Zoll-Bändern (Breite zwischen 1,2 und fast 5 Zentimetern) wurden seit den 1960er-Jahren üblich, als die Bands zunächst auf vier, dann auf acht und schließlich auf 16 Spuren parallel aufnahmen. Die wertvollen Breitbänder sind natürlich noch viel rarer als die originalen Stereo-Master (meist auf Viertelzoll-„Schnürsenkeln“), weil die Studios sie entweder nach dem Mastering löschten, um sie wiederzuverwenden, sie sich mit der Zeit auflösten oder sie sonst wie in den Untiefen der Studios verschwanden.
Wilson hat nun die Beziehungen, das Studioequipment und das Know-how, um an die alten Mehrspurbänder heranzukommen und wirklich neu abzumischen, also zu re-mixen. Dabei wahrt Wilson weitgehend freilich die Originalbalance, etwa im Gegensatz zu Giles Martin, der im Fall zum Beispiel von besagtem Sgt. Pepper der Beatles den Gesang von einem Kanal außen in die Mitte holte. „Ich bewundere Giles für das, was er macht“, kennt Wilson keinen Futterneid, „aber an die Beatles-Multitracks wäre ich auch mal gerne ran“, gibt er schmunzelnd zu.
Zumal er „absoluter Surround-Fan“ ist, der auch von alten Jethro-Tull- oder Yes-Alben Mehrkanal-Mixe erstellt. Manche Lordsiegelbewahrer des „wahren“ Klangs der Sixties und Seventies sehen das natürlich als Todsünde, andere, darunter viele der Künstler, finden es cool. Einige wie Robert Fripp oder Andy Partridge von XTC sind auch gerne im Studio dabei und geben Input, während andere Wilson einfach machen lassen. In jedem Fall lautet sein Credo, das er auch gegenüber volume-Autor Christof Hammer in einem Interview so auf den Punkt brachte: „Ich will diese großartigen Alben auf die absolut bestmögliche Art und Weise überarbeiten und würdigen.“ Dem Autor gegenüber fügte er noch hinzu: „Ich mache keine Mixe für schlechte Anlagen“, und erteilte damit allen Bestrebungen eine Absage, Pop so abzumischen, dass er auch auf dem billigsten In-Ear-Kopfhörer und der lausigsten Schweine-Box noch anmachend klingt.
Dass der feinsinnige Produzent natürlich datenreduzierter Musik wie ehedem MP3 und den armseligen Files auf den seligen iPods und Co. feindselig gegenübersteht, ist klar („shit music“). Doch wie hält er es mit den neuen digitalen Medien? „Die Entwicklung beim Streaming ist fantastisch“, schwärmt er. „Früher waren da nur mickrige Datenraten drin, heute ist hohe Auflösung problemlos möglich – super!“ Beim alten, eigentlich längst ad acta gelegten Streit zwischen CD und LP gibt er sich diplomatisch: „Ich bin Fan von beidem“, was viele LP-Veröffentlichungen auch seiner Soloalben belegen. „Aber es gibt Musik wie Ambient oder Klassik, wo ich die CD als das klar bessere Medium sehe. Und andere, wo eben die LP mehr bringt.“
Bescheidenheit und kluges Abwägen prägen auch den Menschen Steven Wilson, der mit seiner japanischen Freundin etwas abseits von London in dem eher trostlosen Hemel Hempstead in einem restaurierten Bauernhaus lebt. Der konsequente Abschotter seines Privatlebens reflektiert auch die eigene Rolle in der Gesellschaft sehr nüchtern. Gegenüber dem Journalisten Bernd Sievers führte er vor zwei Jahren aus: „Was ich tue, ist belanglos. Ich mache einen lächerlichen Job. Ich will nicht verleugnen, dass Musik eine Menge positiver Energie verströmen kann, aber im Vergleich zu dem, was etwa Krankenschwestern oder Lehrer leisten, ist es lächerlich.“
Ob lächerlich oder nicht, abwechslungsreich ist es allemal. So bleibt möglicherweise auch seine aktuelle Hinwendung zu gefälligerem Pop auf dem neuesten Werk To The Bone, mit neuem Label und Management, nur eine Episode. Wilson will hörbar auch Hits („Ich wäre schon gerne etwas präsenter im Mainstream“), denn: „Ich bin sehr ehrgeizig.“ Soll uns recht sein, solange die Ergebnisse stimmen. Und das tun sie im Falle Steven Wilson allemal – auf beiden Seiten des Mischpultes. Die Auswahl der Top Ten als Musiker wie als Remixer fiel schwer genug. Auf jeden Fall ist das Leben mit dem Genie Steven Wilson beziehungsweise seinen Werken, wie er sagen würde: „nicht zu schlecht“.
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2019, Edition 04 erschienen. Zuletzt wurde der Artikel am 04.03.2024 aktualisiert.
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