Im Reich der Rillen
Von Lothar Brandt
Natürlich kam sie nicht über Nacht. Lange Forschungen und komplizierte Entwicklungen gingen ihrer Geburt voraus. Es ist aber schön, wenn man einen Geburtstag feiern kann: Am 21. Juni 1948 stellte Columbia Records die Langspielplatte der Weltöffentlichkeit vor. Der Siegeszug der in Polyvinylchlorid gepressten Long-Playing Record läutete den Untergang der Schellackplatte ein und förderte den Durchbruch der High Fidelity. Erst recht, als die schwarze Rille im Jahr 1958 stereofon, also mit Zweikanalton, kommerziell eingeführt wurde. Die LP wurde weltweit zum be- herrschenden Medium einer Musikindustrie, deren Umsätze mit wachsendem Wohlstand in ungeahnte Höhen schossen.
Bedeutend schneller noch stieg übrigens die CD, die digitale Compact Disc, in den kommerziellen Himmel. 1982 eingeführt, war bereits nach wenigen Jahren das Ende der analogen LP zum Greifen nahe. Die Vinylscheibe verkrümelte sich in eine kleine Nische, einzig von der DJ-Szene und ein paar scheinbar hoffnungslos konservativen Klangfetischisten am Leben erhalten. In Deutschland ging damals keine Million schwarzer Scheiben mehr über den Tresen.
Und heute? Heute sind die Plattenläden wieder gerammelt voll. Ein einziger grüner Pfeil nach oben zwischen lauter roten nach unten. Der Bundesverband Musikindustrie veröffentlichte Anfang März 2018 die Marktzahlen für Deutschland im Jahr 2017. Gut, der Gesamtumsatz mit dem Kulturgut Musik bewegte sich in etwa auf Vorjahresniveau. Aber nur dank ei- nem gewaltigen Zuwachs beim Audio-Streaming. Nur noch knapp liegt der Digitalumsatz hinter dem Geschäft mit anfassbaren Scheiben. Innerhalb dessen verloren sie alle: die CDs, die Singles, die DVDs, die Blu-rays. Nur ein Segment wuchs wacker weiter: die Vinyl-LP. Um 5,1 Prozent auf jetzt 74 Millionen Euro Umsatz. Das waren vor zehn Jahren, 2008, mal gerade neun Millionen. Von damals noch 1.479 Millionen insgesamt, die heute auf 848 Millionen geschrumpft sind.
Dieses Krankschrumpfen betrifft jenen Bereich, für den sich Kaufleute die ziemlich uncoole Bezeichnung „physische Tonträger“ ausgedacht haben. Das hört sich fast so an wie „psychische Probleme“ und wird von vielen Digital Natives auch tatsächlich in diesem Zusammenhang gebraucht. Lässig verweisen die im Digitalzeitalter Geborenen darauf, dass die CD-Sammlung von 1.000 Stück so was von locker auf eine winzige, superschnelle Festplatte passen würde. Und die LPs, die Platzfresser? Die Musik darauf gibt’s doch längst komplett bei Spotify, Deezer oder iTunes für ‘nen Zehner pro Monat. Körperfrei. Verschleißfrei. Stressfrei. Alles. Immer. Überall. Tja. Haben also alle, die noch platzverschwenderisch, ressourcenverschwenderisch und zeitverschwenderisch „physische Tonträger“ nutzen, „psychische Probleme“?
Erst recht, wenn wir statt dem optischen Datenträger Compact Disc, immerhin ja auch irgendwie verbandelt mit der Vorpubertät der Computer-Ära, das deutlich ältere analoge Medium Langspielplatte nutzen? Der Autor geht mal kurz zur ersten Person Plural über, denn wenn Sie, liebe Leser, nicht dazuzählten, hätten Sie nicht bis hierhin gelesen. Haben wir also alle einen an der Waffel? Nein, haben wir nicht. Höchstens einen harmlosen Spleen, harmloser jedenfalls als der von „Smombies“, die wie fürs Sozialleben gestorbene Zombies süchtig nach irgendwelchen nutz-, hirn- und sinnfreien Mitteilungen ständig auf die Bildschirme ihrer Smartphones glotzen.
Unwiderruflich ist unsere Welt digital geworden. Kommunikation, Produktion, Verkehr, Einkauf, Erwerbsleben, Unterhaltung: Die Bits und Bytes eroberten fast alle Aspekte des modernen Lebens. Unerbittlich, immer schneller, immer umfassender, immer dominanter. Doch diese unumkehrbare Entwicklung erzeugte – gemäß der guten alten Dialektik – aus sich selbst heraus eine Gegenbewegung. Eine Rückbesinnung auf Entgegengesetztes. Sei es die Lust am Landleben, an alten Autos, an mechanischen Uhren, an gedruckten Büchern – oder eben an Schallplatten.
Nein, wer heute noch oder wieder LPs besitzt, kauft und hört, hat – von wenigen Ausnahmen abgesehen – deshalb sicher keine Psycho-Defizite. Im Gegenteil: Er hat mehr. Mehr vom Hören, mehr vom Genießen, mehr vom Leben. Die LP-Hörer gönnen sich in einer immer hektischer werdenden Welt mit einer rasant beschleunigten Verfügbarkeit aller möglichen Daten, in einem Umfeld mit dem Zwang, möglichst viel möglichst rasch zu konsumieren – in dieser Umwelt gönnen sich LP-Hörer den Luxus der Entschleunigung, des bewussten Genießens.
Hört sich das völlig übertrieben, romantisiert, spinnert an? Nun, betrachten wir die Sache doch mal nüchtern: Wer sich dazu entschließt, eine Schallplatte zu hören, trifft eine bewusste, selbstbestimmte Entscheidung. Er oder sie folgt nicht irgendwelchen Algorithmen, die durch immer gleiche, hektisch durchgewischte Favoritenlisten, durch in Sekundenbruchteilen durchgezappte „könnte Ihnen auch gefallen“-Happpen oder sonst irgendwas Erscrolltem führen.
Es geht also los mit einer eigenen Wahl. Und dann muss man, jedenfalls im Normalfall, auch noch selber Arbeit verrichten. Vom Hörsessel aufstehen, die mehr oder weniger große Sammlung durchstöbern, die erwählte Scheibe zum Plattenspieler tragen, aus der Hülle nehmen, auf den Teller legen, den Spieler starten, den Tonarm über die Einlaufrille führen, ihn absenken und dann noch zum Hörplatz zurückpilgern. Daraufhin läuft die LP-Seite oder zumindest der erwartete Titel ganz durch. Danach bleibt das schöne Gefühl, sich mit vergleichsweise hohem Aufwand etwas Gutes getan zu haben. Unersetzbar. Die Nase hat vielleicht erinnerungsträchtige Aromen an dem Cover erschnuppert, die Hände aber haben auf jeden Fall einen real vorhandenen Tonträger berührt, transportiert und das Abspielen initiiert, die Augen haben all das begleitet und können nun, wenn sie vom Coverstudium aufschauen, der Nadel bei ihrer Wanderung durch die Rillenspirale zuschauen. Dabei hören wir, auf was wir Lust haben oder auf was wir neugierig sind, was uns interessiert oder uns berührt. Unser Hirn stellt eine direkte Beziehung zwischen Tätigkeit und Nutzen her. Wir haben konkret etwas dafür getan, dass die Beatles nun „Michelle“ oder die Rolling Stones „Angie“ anschmachten. Bei wildem Herumgetippe auf dem Tablet stellt sich dieser Zusammenhang bestimmt nicht ein.
Nun gut, auch eine CD muss noch in den Player eingelegt werden. Doch spätestens dann, wenn die kleine Silberscheibe im Gerät verschwunden ist und die Fernbedienung das Kommando übernimmt, fehlt die direkte Rückkopplung von Sicht-, Fühl- und Hörbarem.
Nachdem wir uns also nun mehr oder weniger spekulativ mit den gesellschaftlichen und psychologischen Gründen befasst haben, sollten wir das Phänomen selber etwas genauer untersuchen. Das Phänomen hat den Namen „Vinyl-Boom“, den viele Medien, drolligerweise viele davon digital, ausgemacht zu haben glaubten. Kommen wir kurz auf die eingangs erwähnten Zahlen zurück. Der Marktanteil der meist schwarzen Scheiben beträgt in Deutschland durchaus überschaubare 4,6 Prozent am Gesamtumsatz mit Musik. Klar, mit steigender Tendenz. Aber zum Vergleich: Die vielfach bereits abgeschriebene CD macht noch immer 45,4 Prozent. Klar, mit fallender Tendenz, aber lassen wir die kleine analoge Kirche doch mal im digitalen Dorf. Unaufhaltsam erobert dort das Streaming Terrain, um 42,8 Prozent steigerte es den Anteil auf jetzt 34,6 Prozent. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Streaming wird zum Mainstreaming.
Aber: Analog lebt. Die Hi-Fi-Zeitschriften testen wieder eifrig Plattenspieler, in den letzten beiden Jahren sind allein zwei ausschließlich um den Vinylkosmos rotierende Zeitschriften entstanden, darunter MINT, das Magazin für Vinyl-Kultur. Mit deren Autoren schauen wir kurz in die weite Welt: Schätzungsweise 134 Millionen LPs verließen 2017 die Presswerke, davon kamen sagenhafte 34 Millionen aus Deutschland, in der Europäischen Union fertigen die fünf weltgrößten Press- werke etwa 90 Millionen. Etwa 3,5 Millionen LPs konnten in Deutschland abgesetzt werden, die fünf Topseller lieferten die Toten Hosen („Laune der Natur“), Rammstein („Paris“), die Beatles („Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“), David Gilmour („Live at Pompeji“) und Depeche Mode („Spirit“).
Alle diese Künstler sind bei großen Plattenfirmen beziehungsweise deren Vertrieben unter Vertrag. Der Trend ist klar: Die sogenannten Majors Universal, Warner und Sony haben den Vinylmarkt seit geraumer Zeit für sich entdeckt – und sie blockieren die Kapazitäten der Presswerke. Kleinere Labels, die die Presswerke lange Zeit überhaupt am Leben hielten, haben da oft das Nachsehen. „Wir warten bei unserem Presswerke Pallas vier Monate auf Nachpressungen gut laufender Titel“, erklärt Kai Seemann, der mit seiner Firma Speakers Corner heuer immerhin sein 25-jähriges Jubiläum feiern kann – siehe auch: „Analoge Köpfe“. Als er 1993 mit den ersten audiophilen Lizenzpressungen anfing, da „waren wir ja längere Zeit die Einzigen, besonders in der Klassik. Uns war von Anfang an der Pure-Analogue-Gedanke sehr wichtig. Das heißt vom Master über den Schnitt alles in der Analogue-Domain zu halten. Der Hi-Fi-Handel unterstützte uns, die Majors waren froh, das Vinylthema loszuwerden. Lange ging es nur bergauf, aber in vernünftigen Grenzen.“
Von einem Boom, der diesen Namen verdient, kann bei Speakers Corner allerdings keine Rede sein, wenn auch die Zuwächse den Laden am Laufen halten. Zwei bis drei neue Titel pro Monat, stabil abgesetzt über ein weltweites Vertriebsnetz, kann man handeln, doch „inzwischen ist der Markt viel zu groß“. Und es macht sich ein gewaltiges Problem breit: Die Majors, die ja über den mit Abstand größten Teil des kommerziell attraktiven Repertoires verfügen, rücken keine Lizenzen mehr raus, sondern machen das Geschäft selbst. Die Liebe zum analogen Detail geht dabei flöten. Insbesondere der sogenannte Schnitt oder das Mastering, wo die Vorlagen für die spätere Massenpressung hergestellt werden, kann bei der für wirklich gute Platten unabdingbaren Sorgfalt bis zu 2.000 Euro kosten – Geld, das sich die Majors gerne sparen und die Maschinen auf Autopilot stellen. Folge: Von audiophiler Qualität neu gefertigter Vinyls kann kaum mehr die Rede sein.
„Vieles davon ist grottenschlecht“, bestätigt Jan Sieveking, der mit seiner Firma Sieveking Sound seit 2004 „die wahren Luxusgüter“ aus den Vereinigten Staaten importiert – siehe gleichfalls „Analoge Köpfe“. Obwohl er regelmäßig „staunt, dass die teureren Produkte besser laufen als die günstigen“, konstatiert Sieveking knapp: „Der Vinyl-Boom geht an dem eigentlichen High-End-Markt komplett vorbei. Unsere Verkaufszahlen für teure Scheiben, etwa alte Bob-Dylan-Werke auf zwei mit 45 Umdrehungen pro Minute umgeschnittenen LPs, sind die gleichen wie vor zehn Jahren.“ Immerhin halten die Edelstücke den Softwareteil seiner Firma gut über Wasser, doch der herbeigeschriebene Vinyl-Boom findet „klar im Massenmarkt der Billigpressungen statt“.
Und Sieveking verschattet auch eine andere vermeintlich strahlende Seite des Vinyl-Booms. Natürlich stimmt es froh, dass die Zahl der in Deutschland verkauften Plattenspieler von 78.000 in Jahr 2016 auf respektable 118.000 im letzten Jahr wuchs. „Sorry, aber die meisten davon sind Vollplastik-Bomben im Niedrigstpreissegment. Die taugen nichts.“ Womit er zweifellos recht hat. Klare Empfehlung auch von volume an seine Leser: Manierliche Qualität kostet bei einem Plattenspieler so ab 230 Euro. Ab da aber gibt es erstaunlich gute Plattenspieler. Dass man für Spieler made in Germany doch etwas drauflegen muss, liegt auf der Hand. Aber auch hier müssen es nicht die sechsstelligen Summen sein, die für die Hochaltäre zweier bedeutender deutscher Produzenten aufgerufen werden. Und auch die Preis-Leistungs-Champions aus deutscher Fertigung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wichtigsten inländischen Hersteller ihr Hauptgeschäft im Export machen. Wenn es um Vinyl geht, geht es auch sehr schnell um den Klang. Wahre Glaubenskriege, befeuert von einer Unmenge Halbwissen, selektivem Starrsinn und ideologischer Verhärtung, haben sich daran entzündet, ob eine analoge Platte „besser“ klingt als eine CD oder ein Stream. Blödsinn wie den „warmen“ Vinylklang setzen manche deshalb in die Welt, weil manche Presswerke schlicht den Brillanzanteil und die Dynamik kürzen, um die kostbaren Schneidstichel ihrer Schneidemaschinen zu schonen. Oder die beschworene Idylle vom analogen Knistern. Eine gute Schallplatte knistert nicht – sie liefert Musik!
Und die kann unfassbar gut klingen. Ob besser oder schlechter als die digitale Konkurrenz, hängt von vielen Faktoren ab, deren Diskussion so frucht- wie endlos sein kann. Nutzen wir doch die Zeit lieber zum Musikhören! Bei aller nötigen Korrektur der Perspektive auf den Werkstoff Vinyl, bei allem rationalen Aufklären über möglicherweise unlieb- same Aspekte des Booms bleibt doch klar: Die Langspielplatte lebt. Ihre Faszination, für jedermann erlebbar, ist ungebrochen. Genießen wir sie!
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2018, Edition 01 erschienen (Printmagazin). Zuletzt wurde der Artikel am 09.03.2023 aktualisiert.
Herausgeber des VOLUME-Magazins: HIGH END SOCIETY e. V., Verlag: MAXX8 GmbH
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