Rock für die Ewigkeit
Von Lothar Brandt
Bei Nummer 200 war Schluss. Obwohl sie noch lange nicht am Ende war. Die vorläufige Liste mit legendären Alben aus dem großen, dem klassischen, dem unwiederbringlichen, dem unwiederholbaren, dem unerreichten Jahrzehnt der Pop- und Rockmusik von 1966 bis 1975. Der Verfasser zog die Reißleine – besser: ganz viele Durchstriche – und beschloss die rigorose Beschränkung. Erstens zeitlich: Aus dem Jahrzehnt wurde das Jahrfünft 1967 bis 1972. Bevor jetzt einige Schlaumeier mit mathematischen Grundkenntnissen detektieren, dass die Spanne sechs Jahre umfasst, sei darauf hingewiesen, dass es ja nicht um den kompletten Zeitraum vom 1. Januar 1967 bis zum 31. Dezember 1972 geht und dass man zu jener Zeit ohnehin alles nicht so eng gesehen hat. Zweitens quantitativ: Wir belassen es bei 100 Alben und bei maximal drei pro Künstler oder Band, so weh es auch tut.
Drittens stilistisch: So weh auch das tun mag, aber der Jazz, der Schlager, die Volksmusik (nicht nur die deutsche) und auch die Avantgarde bleiben außen vor. Jedenfalls in ihrer Reinform. Es wird sich zeigen, dass sich viele Rockklassiker auch gerne in Randbereichen bedienten. Und viertens formattechnisch: Es geht um reguläre Alben. Best-of-Zusammenstellungen, Zusammenstellungen verschiedener Künstler (Various Artists Sampler) und auch Raubpressungen (Bootlegs) sind nicht berücksichtigt. Des- halb stehen auch die fünf LPs (I: drei LPs, II: 2 LPs) mit Auszügen vom sagenumwobenen Woodstock-Festival 1969 nicht drin. Zumal die beteiligten Musiker in den meisten Fällen musikalisch Stärkeres anderweitig hinterließen.
Fünftens und bestimmt nicht letztens sollten alle LPs oder CDs ohne Probleme zu beschaffen sein, wie und woher auch immer. Die Tonträgerindustrie ist, erst recht seit ihr das Streaming das Wasser abgräbt, sicher kein wohltätiger Samariterbund. Sie wollte und will Profit machen. Damals aber zeigte sie sich erstaunlich experimentierfreudig – und erntet die Früchte noch heute mit immer aufwendigeren Ausgaben berühmter Produktionen. Ob als teure „anniversary editions“ oder als preiswerte Midprice-CDs, ob als High Resolution Stream oder als mehr oder weniger gut gemachte LP-Nachpressung – diese Top Hundred liegen auf dem Präsentierteller.
Die Spitze eines Berges heißer Scheiben – ganz klar. Man kann nur immer wieder staunen. Natürlich wuchs der Berg nicht aus dem Nichts. Der Blues als das Urgestein hatte sich ja schon als höchst fruchtbar bewiesen, als diese „schwarze“ Musik, vermählt mit dem Swing, dem „weißen“ Rockabilly und der Countrymusik den Rock ’n’ Roll gebar. Der wurde angehärtet, weichgespült und nach dem Export ins Vereinigte König- reich dort zum Beat transformiert, der wiederum mit der British Invasion ab 1963 die USA eroberte. Es dräute mächtig. Schon im Jahr 1966 hatten die Beatles mit Revolver und die Beach Boys auf der anderen Seite des Atlantiks mit Pet Sounds bahnbrechende LPs vorgelegt.
Schon seit geraumer Zeit hatten Truppen wie die Yardbirds in England den Bluesrock angetönt, hatten in den USA Musiker mit Drogen experimentiert und psychedelische Effekte eingebaut, hervorragende Instrumentalisten die eigene Virtuosität ausprobiert. Der Boden war also vorbereitet, aus dem dann ab 1967 mit einer unglaublichen Wucht der kreative Vulkan ausbrach. Innerhalb nur weniger Jahre bildete die Pop- und Rockmusik die meisten bis heute gültigen Stile aus.
Psychedelic Rock mit bewusster Einbindung bewusstseinserweiternder Erfahrungen oder was man dafür hielt überschwemmte geradezu die Szene ab dem „Summer Of Love“ 1967. Einem Strohfeuer gleich brannte er zwar schnell aus, doch Glutreste hielten sich im Grunde bis heute. Der Hardrock hat natürlich eine Reihe von Vätern, doch seine Geburtsstunde schlug mit Sicherheit damals. Das Riff als prägnante Akkordfolge feierte seine berühmtesten Urstände just in jenem Jahrfünft – nehmen wir mal Jimi Hendrix’ „Purple Haze“ 1967 und Deep Purples „Smoke On The Water“ 1972 als Eckpunkte.
Der Bluesrock, die härtere Variante in der Abwandlung des immer gleichen, bei den Guten aber nie langweiligen Schemas, zeigt viele Überschneidungen mit dem Hardrock. Bands wie Ten Years After oder Free beschritten gekonnt beide Terrains. Am erfolgreichsten wilderten dort die Bandmitglieder von Led Zeppelin, die aber gleichzeitig auch eine akustische, vom Folk beeinflusste Seite pflegten. Und so ganz nebenbei schon auf ihrem Debüt mit „Communication Breakdown“ die Lunte für den später sogenannten Heavy Metal gelegt hatten. Auf ihrem längst legendären vierten, wie die drei ersten titellosen und daher nummerierten Album (von Fans auch „Four Symbols“ und anders genannt) spannte LZ den Bogen vom brachialen Riffrocker „Black Dog“ über eine ultraverhärtete uralte Bluesnummer „When The Levee Breaks“ (von Memphis Minnie) und das epische „Stairway To Heaven“ bis zur (fast) reinen Folknummer „The Battle of Evermore“, wo sich Sänger Robert Plant Verstärkung bei der „Elfe“ Sandy Denny holte.
Die „Maid“ sang unter anderem bei Fairport Convention – neben The Pentangle mit der grandiosen Jacqui McShee, einer der Größen des ebenfalls damals aus der Taufe gehobenen Folk Rock, die alte englische, schottische oder irische Weisen mit dem Instrumentarium des Rock (oder auch Jazz) verband. Mit der Popularisierung der alten Weisen wollten dann aber auch neue gehört werden. Die Gruppe der Singer-Songwriter erfreute sich dank des Zugpferds Bob Dylan ständigen Zulaufs. Etliche bis heute unübertroffene Highlights des Genres erstrahlten gleichfalls in jener Epoche.
Angeregt vom höchst artifiziellen Meilenstein-Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band der Beatles spannte der Rock seine Reifen weiter hinein in die Welt der Kunstmusik. Der Symphonic Rock brach sich mit dem Album Days Of Future Passed der Band The Moody Blues Bahn. Ganze Symphonieorchester dienten eben nicht mehr nur zur harmonischen Verstärkung und Versülzung der Hauptmelodie, sondern als eigenständige Klangkörper. Immer weiter ausgearbeitete Strukturen durchdrangen den Art Rock und dann den Progressive Rock. Dessen erste Generation mit Bands wie Genesis, Yes, King Crimson, Gentle Giant und Van der Graaf Generator veröffentlichte ihre ersten Meisterwerke auch schon vor 50 Jahren. Und die Band Pink Floyd – anfangs mit The Piper At The Gates Of Dawn mit ihrem später leider im Drogennebel versinkenden Hauptsongschreiber Syd Barrett psychedelisch, dann auf Atom Heart Mother auch mal symphonisch unterwegs, schließlich episch auf Meddle mit „Echoes“ – ordnete sich eher neben als im Progressive Rock ein, weil ihnen ein wenig die Virtuosität der Kollegen abging.
Die Band erlebte im angesprochenen Jahrfünft natürlich auch ihre instrumentale Blüte, denn der Rock und seine kommerziell weniger erfolgreiche Cousine, der Jazz, begannen miteinander anzubandeln, um im Jazz Rock oder der später sogenannten Fusion die rhythmische Straightness und nachvollziehbare Harmonik des Rock mit der Spontaneität, der Improvisationsfreude und der Virtuosität des Jazz zu verbinden. The Flock oder das Mahavishnu Orchestra (in dessen erster Inkarnation Flock-Geiger Jerry Goodman fiedelte) trieben es da besonders bunt. Die satten Farben von Jazz-Bläsern holten sich dagegen die Brass Rocker mit ins Boot. Besonders viel Fahrt nahmen Chicago Transit Authority (später zu Chicago verkürzt) und Blood, Sweat & Tears auf.
Die Kunst im Rock war allerdings schon früh einigen Hardlinern höchst suspekt. Was später in den 1970ern der Punk für sich reklamierte, machten gleichfalls schon andere lang vor ihnen wahr. MC5 aus Detroit und The Stooges (mit Iggy Pop) aus Ann Arbor, Michigan, holten die in abgehobene Sphären zu entschwinden drohende Hörerschaft zurück auf den harten Boden simpler, rifflastiger, mitgröltauglicher Mucke. Garage Rocker nannte man Vorreiter und Vollender dieser Dampframmen-Variante.
Doch das alles spiegelte vorwiegend die Vorlieben der überwiegend weißen, über- wiegend besser situierten Jugendlichen zu beiden nördlichen Seiten des Atlantiks. Die Urmutter Blues hatte für die dunkelhäutigere Klientel längst auch einen wundervollen Sohn geboren: den Soul. Überragende Künstler wie Otis Redding, Wilson Pickett oder der frühe Marvin Gaye, die frühen Ike & Tina Turner, die frühen Temptations oder die Supremes und viele andere gehören natürlich auch in jede gut sortierte Sammlung, doch sind in diesem sehr Single-lastigen Genre oft „Best-of“-Compilations die bessere Wahl als viele lieblos mit Füllern verstopfte Original-LPs. Doch ab 1967 explodierte auch die afroamerikanische Kreativität. Mit wachsendem Selbstbewusstsein („I am black and I am proud“), getragen von der Bürgerrechtsbewegung, brachte sie nun auch auf Longplayern ihre Kunst erfolgreich an den Mann und die Frau.
Wobei der „Godfather of Soul“ James Brown mit Knallern wie „Sex Machine“ wohl heute im Sperrfeuer der Political Correctness stehen würde. Damals verschaffte sich „the hardest working man in the show business“ den Respekt der weißen Mehrheitsgesellschafft. Sein etwas milder agierender, nicht minder genialer Brother Marvin Gaye konnte mit dem ersten Konzeptalbum des Soul What’s Going On auch höchst erfolgreich Sozialkritik in die Charts bringen. Und die Temptations mutierten unter der Ägide von Produzentengenie Norman Whitfield gar zur Epic-Symphonic-Psychedelic-Soul-Truppe. „Papa Was A Rolling Stone“ von All Directions ist mit seinen zwölf Minuten einer der magischsten Tanzbodenfeger aller Zeiten.
Mit dem Soul lernte der Rock den Groove. Und damit den Funk. Besagte Temptations eröffneten All Directions mit dem Song „Funky Music Sho’ ’Nuff Turns Me On“, doch bevor der Begriff da war, hatten die bis heute ein wenig unterschätzten Sly & The Family Stone schon reichlich Funken gezündet.
Alles das hier im Einzelnen auszuführen, jeden Künstler, jedes Album ausreichend zu würdigen, würde den Rahmen selbst eines Buches sprengen. So bleibt die Liste sicher schmerzhaft unvollständig und dem einen oder anderen zu oberflächlich. Der Autor ist sich dessen bewusst. Doch die Beschränkung dient auch der Übersichtlichkeit und dem Nutzwert. Und nicht zuletzt der Disziplinierung des Autors. Denn solche angeforderten Listen stellen üblicherweise den Kritikern die Ego-Fallen: Da wären die Versuchung, die eigenen Repertoirekenntnisse in Menge und Auswahl zur Schau zu stellen. Und unfassbar viele – eigene – Favoriten zu nennen, die außer einem selbst kein Schwein kennt: tolle Protzerei, aber wem nützt das? Mit der Arroganz des Hochross-Sitzers den ach so verachteten Mainstream, sprich die anhörbaren und erfolgreichen Scheiben meiden und möglichst Schwerverdauliches anpreisen: Das bringt doch nur Raritätensuchern und Randbereichfetischisten etwas. Andererseits: Nur die Hitparaden (Charts) oder die Leserwahlen (Polls) aus vergangenen Tagen abklappern – da ginge denn doch vieles verschütt.
Und das angesprochene Jahrfünft hat so viel zu bieten, dass es selbst die ausgewählte Hundertschaft der Fans nachhaltiger Musik in Scharen auf die Barrikaden treiben wird. Wie konnte der Depp nur X vergessen? Spinnt der, Y so stark zu würdigen? Warum hat dieser Idiot Z mit der völlig falschen Scheibe drin? Und so weiter und so fort. Ja, es ist und bleibt trotz aller objektivierenden Mühen eine hoffnungslos subjektive Auswahl. Ein bisschen Streit, Widerspruch, Ergänzungslust schadet da garantiert nicht.
Einig aber dürften sich die meisten wenigstens darin sein, dass wir es hier mit der kreativsten, energiereichsten und – jawohl! – nachhaltigsten Phase der Pop- und Rockmusik zu tun haben. Eine solche Ballung an Alben, die Mann und Frau noch nach 50 Jahren gerne hören und die darüber hinaus immer wieder von Neuem auch Kohorten jüngerer, nachwachsender Hörer begeistern – das dürfte einmalig bleiben.
Der vorstehende Artikel ist erstmals im Lifestylemagazin „VOLUME“ 2019, Edition 04 erschienen (Printmagazin). Zuletzt wurde der Artikel am 13.07.2023 aktualisiert.
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